Alles Reisen - darüber kann man kaum geteilter Meinung sein - beginnt in einem Verkehrsmittel. Schon das Transportmedium selbst liefert Stoff genug für eine halbe Geschichte: Nicht umsonst sind road movies nicht nur bei Kinogängern, sondern auch bei Filmregisseuren so beliebt. Wer jemals versucht hat, mit der Deutschen Bahn AG von Deidesheim in der Pfalz nach Bad Neuenahr-Ahrweiler an der Ahr zu gelangen - beides besuchenswerte und eigentlich nicht allzu abgelegene Weinorte - wird die Erfahrung teilen, dass das Reisemittel wirklich die Geschichte einer Reise dominieren kann! Doch dies nur als Seitenhieb.
Die erhabenste Art der Fortbewegung ist zweifellos das Fliegen. Loriots Bonmot, der Mensch sei das einzige Lebewesen, das in der Lage sei, im Fluge eine Mahlzeit einzunehmen, trifft angesichts der heutigen Spar-Speisungen an Bord zwar nur noch für Business-Class-Passagiere zu. Dennoch: Weder der Blick aus dem Fenster, noch das genußvolle Gleiten des Landeanflugs machen in der Economy Class weniger Spaß. In der Regel beginnt auf einer Verkostungstour die eigentliche Reise jedoch erst nach der Landung: Große und ruhmreiche Weinbaugebiete beginnen nur selten unmittelbar an einem Rollfeld, und nur die allerwenigsten Weingüter sind bequem mit öffentlichen...
...Verkehrsmitteln erreichbar. Die kurioseste Ausnahme ist vielleicht Schloß Wackerbarth ein paar Kilometer außerhalb Dresdens - ein Weingut mit eigener Straßenbahn-Haltestelle!
In der Regel jedoch ist man auf ein Auto, das heißt zumeist: einen Leihwagen, angewiesen, um auf ein Weingut zu kommen. Was passieren kann, wenn man ohne PKW unterwegs ist, erfuhr ich im September 1990 im Piemont. Als armer Student und Gelegenheits-Journalist war ich mit Bahn und Bussen nach Alba gereist. Dort bezog ich ein Hotelzimmer und erkundigte mich, wie man wohl am nächsten Morgen von Alba aus nach Barolo kommen könne. Ich hatte keine festen Termine, auch keinen Auftrag, etwas zu schreiben. Mein Wunsch war es einfach gewesen, in ein paar Urlaubstagen dem Mythos der Langhe nachzuspüren. Der Hotelportier war skeptisch, ob es überhaupt ein öffentliches Verkehsmittel in die Langhe gebe und riet mir zu einem Taxi.
Doch der Ausflug mit dem Taxi hätte mich mindestens drei Flaschen Barolo gekostet, und so wandte ich mich an das Touristenbüro. "Nun ja", sagte man mir dort, "es gibt schon einen Bus nach Barolo - aber der fährt bereits früh um halb sieben. Kurz nach ein Uhr wird er Sie nach Alba zurückbringen. Wenn Sie diese Tour wirklich machen wollen, dann seien Sie pünktlich!" Anderntags um halb sieben morgens...
...verstand ich diesen Ratschlag. Als ich in finsterer Nacht an die genannte Bushaltestelle trat, gab es dort keinen Fahrplan - doch eine Clique wartender Schulkinder. Der Bus, der schließlich vorfuhr, war ein Schulbus! In jedem Dorf links und rechts der Strecke nach Barolo pickte er weitere Kinder auf - die Fahrt zog sich ziemlich in die Länge und wurde von einem aufgeregten Stimmengewirr erfüllt. Zuletzt war ich gerade rechtzeitig in Barolo, um einen wunderschönen Sonnenaufgang über den Weinbergen der Langhe zu erleben. Erst etwa um halb neun Uhr traute ich mich schließlich, an Bartolo Mascarellos Haustüre zu klingeln - und bekam sie vom Hausherrn persönlich geöffnet. Ich weiß nicht, woran er mir angesehen hatte, dass ich nicht mit einem Auto unterwegs war - jedenfalls wollte er sofort wissen, wie ich nach Barolo gekommen war... Mutmaßlich war ich nicht der erste Pilger, der zusammen mit den Schulkindern kam. Der große alte Barolista war jedenfalls so sehr amüsiert, dass er mir beim Abschied eine Flasche mit handgezeichnetem Etikett vermachte.
Ebenso wechselhaft wie die Beförderungsmittel sind auch die Unterkünfte, mit denen man es auf Weinreise zu tun haben kann. Die originellste einfache Unterkunft, an die ich mich erinnern kann, war ein agritourismo in der Kampania. Das nächste Hotel wäre etwa achtzig Kilometer weit entfernt gewesen - verglichen mit der Aussicht, im Eindunkeln noch eine Stunde über schlecht beschilderte Landstraßen zu gondeln, erlaubte der steinige Feldweg, der mich ein paar Kilometer weit weg von der Zivilisation fürte, einen geradezu erholsamen Tagesabschluß. Das agritourismo - so heissen in Italien die Unterkünfte vom Typ "Ferien auf dem Bauernhof" - erwies sich als ein altes, zu einem Weingut gehöriges Wirtschaftsgebäde: Es verfügte über vier Appartments pro Stock und einen riesigen Gemeinschaftsraum. Da ich ausserhalb der Saison kam, war ich der einzige Gast - und so verzehrte ich meinen als Abendbrot mitgebrachten Proviant in einer Halle, die acht Großfamilien hätte beherbegen können.
Die einfachste Herberge der letzten Jahre war dieses agritourismo bestimmt, mitnichten aber die unangenehmste. Und das alles für nur 25.000 Lire! Das andere Extrem auf der Preisskala stellt das Hotel Meurice in Paris dar. Im agritourismo könnte man ...
...sechs Wochen wohnen für den Betrag, den das Fünfsterne-Hotel am Jardin des Touilleries für eine Nacht veranschlagt. Marmorbäder, Kristall-Lüster und die Möglichkeit, nach drei Gängen im Wintergarten oder fünfen im Spiegelsaal bei einer Umrundung des Louvre etwas Luft zu schnappen, gehören zu den Privilegien, die man sich für diesen Tarif erkauft ( - oder spendiert bekommt).
Verkostungstouren - das ist Außenstehenden oft nicht klar - sind keine Trinkgelage! Es bedarf eines besonderen Maßes an Disziplin, um jeden Tag ab 8 Uhr 30 oder 9 Uhr vormittags bis in den Abend hinein Weine zu verkosten. Morgens joggen zu gehen hilft, um halbwegs fit zu bleiben - auch wenn man es sich am Abend zuvor schmecken ließ... In den Weinbaugebieten führen die Wege meist durch die Weinberge. Die Laufstrecke, die mir bislang die meiste Ehrfurcht eingeflößt hat, führte von einem Hotel etwas außerhalb Nuits-St-Georges' (über die - pardon -verdammte route nationale nach Vosne Romanée, dort die Reihe der Grands Crus entlang bis zum Clos de Vougeot und dann wieder zurück. Natürlich findet man nicht immer so schöne und bedeutungsschwere Strecken. Ich erinnere mich, in Portugal einmal planlose Runden durch die Kleinstadt Evora gedreht zu haben. Nach Tagen unerträglicher Hitze, während derer die Laufsachen im Koffer geblieben waren, wollte ich die endlich einmal milderen Temperaturen für einen kleinen jog nützen. So ging es vom Hotel aus durch die Hauptgeschäftsstraßen, wieder zurück zum Hotel und so fort. Ein verkehrsberuhigtes Zentrum übrigens... Praktischer hatte ich es ein andermal während überraschend kalter Januartage in Montepulciano getroffen. Vom (nur schwach beheizten!) Hotel blickte man direkt auf einen Sportplatz mit Tartanbahn. Eines Morgens schneite es ein wenig. Vielleicht war es der im Blut gespeicherte, gehaltvolle Vino Nobile, der mich von innen heraus wärmte und eine besondere Euphorie bewirkte - jedenfalls sind mir die an diesem Morgen gelaufenen Kilometer noch immer als ein besonderer Genuß in Erinnerung.
Früh aufstehen muß man auf Tour, wenn man ein wenig Privatvergnügen haben möchte. Einmal hatte ich das Glück, in einem Hotel an der Amalfiküste...
...übernachten zu können. Doch ich kam erst spät in der Nacht an und musste am nächsten Morgen schon um halb acht weiterfahren. Aber es war Sommer! Das erste Geräusch nach dem Brummen des Weckers das Meeresrauschen... Hundert Meter Steintreppen, in Serpentinen flach abfallend hinab bis ans blau leuchtende, duftende Meer: Nichts wie hinein, ein paar Züge - schöner kann man einen Tag nicht beginnen.
Doch nicht nur die unterschiedlichen Unterkünfte sind es, und nicht nur die Momente der Entspannung, die Verkostungsreisen ihre eigene Stimmmung geben - es sind auch die kleinen überraschenden Ereignisse am Wegesrand. Lokalkolorit! In Barile in der Basilicata wurde just in dem Moment, als ich die Azienda Paternoster verlassen hatte, eine Ziegenherde durchs Dorf getrieben. Der Hirt schien die Tiere gut im Griff zu haben, denn diese hatten ihre sprichwörtliche Neugier vergessen und gestatteten mir - wie man unten sehen kann - keine Portträtaufnahmen... In Atripalda in Kampanien geriet ich ein andermal mitten in die Prozession zu Ehren des heiligen Antonius. Kurz zuvor erst hatte ich mein Hotelzimmer bezogen: ein Dachkämmerchen in einem Neubau direkt gegenüber der Azienda Mastroberardino, bei der ich am anderen Morgen zur Degustation der neuen Weine angemeldet war. Auf der Suche nach einem Restaurant, das ein gutes Abendessen anzubieten hätte, stand plötzlich dieser in der Dämmerung von Kerzen erleuchtete Menschenzug vor mir: vornweg der Träger eines Lautsprechers, aus dem per Funk der Priesters sprach: "Signore, tu sei la misericordia, Signore, tu sei la vita..." Der Hirte dieser Herde erschien einige Minuten später in der Mitte des Zuges, sein Sprechgesang klang nun ganz anders als aus dem Lautsprecher, und noch als der am Ende der Prozession auf einer Vespa mitfahrende Träger des zweiten Übertragungslautsprechers ausser Sicht geriet, hallte die Strasse wider vom Chorus der Gemeinde.